Tiamats Töchter
von Diana P. Bailey Es ist noch dunkel, als ich den Bahnhof verlasse.
Regen trifft mein Gesicht. Ich fühle mich erschöpft und traurig. Sie
hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben, und das leise "Bis bald!"
klang wie ein Versprechen. Wen besucht sie in Berlin? Diese Ungewissheit. Warum
mache ich es mir nur dermaßen schwer? Ich sollte endlich Farbe bekennen,
zu meinen Gefühlen stehen. Ein halbes Jahr schweige ich nun schon in mich
hinein. Dabei ist diese Frau ein absoluter Glücksfall. Und das gleich in
mehrerlei Hinsicht.
Ich schwärme seit jenem chaotischen Samstag im
Juni für sie. Das erste, was ich von ihr sah, war ein roter Lockenkopf, der
über den Grünpflanzen im Eingangsbereich auftauchte und sich dann schnell
in meine Richtung bewegte. Das zweite waren ihre Augen: Smaragdgrün, feurig.
Der Duft eines dezenten Parfüms umgab sie. Ruby Ulug stellte sich mit einem
kräftigen Händedruck vor. Sie trug einen eleganten Hosenanzug, legte
Seidenschal, Notizbuch und Stift auf den Schreibtisch und schob den zerknirscht
eine Begrüßung nuschelnden Herrn Systemadministrator Franke, der es
geschafft hatte, vormittags um halb elf das Netzwerk der Firma komplett lahm zu
legen, kurzerhand vom Computer weg auf einen Besuchersessel. Die Frau mit dem
Wuschelhaar begann ruhig, beinahe lautlos ihr Werk. Fünf Minuten später
war das Einrichtungshaus Noll wieder online. Die Schlangen an den Kassen wurden
kürzer. Ein blasser Franke wischte sich die Stirn. "Okay," murmelte
Ruby, schrieb etwas in ihre Kladde, griff nach Tuch und Stift und drückte
mir erneut die Hand. Flink, wie sie gekommen war, verließ sie das Gebäude. Ich
schaute die Tür an, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Mein Blick wanderte
zur großen runden Uhr darüber, deren Ticken ich zu vernehmen glaubte.
Fünf vor Zwölf, zeigte der Chronometer. Es war mein Herz, das so laut
schlug. Was für eine Frau! Ich spürte, dass ich lächelte, und schalt
mich eine Närrin. Zurück im Büro machte ich mir einen Espresso,
legte die Beine hoch und griff zum Telefon. Mit äußerstem Fingerspitzengefühl
zog ich Erkundigungen ein. Am Abend fasste ich zusammen: Ruby Ulug wurde Anfang
der Sechziger geboren, wuchs als Kind türkischer Eltern in Köln auf,
gab als Teenager den Punk, studierte Maschinenbau und Philosophie in Münster
und Berlin und wechselte Ende der Neunziger in die Nordhessische Metropole, um
für eine große Versicherung zu arbeiten. Das rote Haar war echt. Ihre
Unternehmensbetreuung, seit vier Jahren im Handelsregister eingetragen, florierte.
Die Spezialistin für Netzwerktechnik lebte allein in einem Appartement. Ruby
hielt ein Abo des Staatstheaters und des KSV. So weit so gut. Wir könnten
uns über Fußball unterhalten. Doch - würde ich als Frau Chancen
bei ihr haben? Diese Frage beschäftigt seit jenem Tag mein Denken;
sie bescherte mir Kummer, ein paar schlaflose Nächte, und zugegebenermaßen
auch etliche heiße Träume. Während ich durch die City stapfe und
mich an die letzte dieser nächtlichen Illusionen erinnere, bessert sich meine
Laune. Die triefnasse Stadt stimmt mich milde. Ich mag diese Zeit zwischen Nacht
und Tagesanbruch. Beim Bäcker stehen die Leute bis auf den Bürgersteig.
Brötchenduft umweht die Ladentür. Ich stelle mich an den Schluss der
Reihe, hinter eine Blondine im Jogginganzug. Wasser tropft vom Dach in meinen
Kragen. Ich weiche ein Stück zur Seite und plane den Tagesablauf: Frühstücken,
heiß baden, dann ins Geschäft, und mich anschließend richtig
ausschlafen. Abends spaziere ich über den Weihnachtsmarkt, am Bratwurststand
vorbei zu den Süßigkeiten. Die Schaumwaffeln sehen verführerisch
aus. Der Verkäufer guckt eher grimmig. Schräg gegenüber gibt es
Leuchtsterne, Popcorn und eine lachende Frau, die frisch gebackene Krapfen in
die Auslage räumt. Puderzucker krümelt mir auf die Jacke, während
ich weiterschlendere. An einem Häuschen mit Fellen und Lederwaren bleibe
ich stehen. Ein Paar Stiefel prüfe ich genauer. Halbhoch, aus einem Stück
geschnitten, seitlich zu schnüren, braun, weich. Sie müssen eingelaufen
werden, bevor die Schusterin eine Sohle aufklebt. Neben mir wird es unruhig. Ein
kleines Mädchen winkt begeistert einem blauen Drachen, der auf der anderen
Seite der Bretterbude an der Wand lehnt und in unsere Richtung schaut. Gut
gemacht, das Teil. Schön schrecklich, mit einem Kamm, der sich vom Kopf bis
zum Schwanzende zieht, zwei Hörnchen über großen runden Augen
und Nasenlöchern, aus denen rhythmisch sanft der Odem dringt. Wirklich imposant.
Und weiblich. Unverkennbar. Vom Kinn über Brust und Bauch bis zwischen die
Schenkel hin ziert ein schimmerndes Band bläulichgrüner Schuppen den
muskulösen Leib. Plötzlich geht ein Ruck durch die Figur. Sie hat das
Gewicht auf das rechte Bein verlagert. Ich staune. "Du, Mama, kann sie
mit uns gehen?" Das Kind zeigt auf die Drachin. "Sie heißt Mirabell.
Und ist ganz lieb!" "Unsinn! Was dir immer einfällt! Komm, wir
müssen uns beeilen, die Bahn fährt gleich." Die Mutter trägt
Einkaufstaschen und einen Schal. Ihre Augen tränen vom Wind. "Los jetzt!"
Mirabell, wiederhole ich, da tönt es bereits fröhlich in
meinem Kopf: Richtig, ich bin Mirabell. Vermutlich liegt es an irgendeiner
Störung, dass Du mich in deinem Alter überhaupt sehen kannst. Ich
stimme erst mal zu. Aber natürlich denke ich mir meinen Teil. Die Telepathin
kichert. Ich heiße Claudia, eine kleine Verbeugung meinerseits,
ein forschender Blick in ihre blauen Augen, und ich frage: Was bist Du? Was
tust Du hier? Ich studiere, beobachte was geschieht, erfahre Menschheitsgeschichte
am eigenen Leib. Erneut ihr Kichern. Ungewöhnliches Outfit, denke
ich. Sicher unbequem. Ach, geht, erwidert sie. Es ist mein
Fahrzeug in dieser Dimension. Ich hätte auch in Gestalt eines sirianischen
Delfins kommen können, was ziemlich unpraktisch gewesen wäre, wegen
der Wasserflaschen und dem sonst noch nötigen Equipment auf dieser Ebene.
Und das Kostüm von Nina Hagen, das ich gerne genommen hätte, ist ja
seit Jahren ausgeliehen. Mirabell zwinkert mir zu. Ich nicke verständig.
Ein junges Pärchen marschiert an uns vorbei. Sie keift. Er motzt unter dem
Schumacher-Käppi. Die beiden erörtern gerade die Schuldfrage. Die
Drachin guckt den Zweien hinterher. Ihr Herz ist Liebe. Der Geist glasklar. Selten
auf dieser Ebene, um in ihrem Sprachgebrauch zu bleiben. Sie feixt. Du bist
ja selbst nicht ganz von dieser Welt, lacht ihr Gedanke. Ich bin ich,
gebe ich zurück. Ahh, du bist Individualistin? Was sonst? Du
versuchst gar nicht erst, wie die anderen zu sein? Sie blinzelt. Warum
sollte ich? Weil das die Norm ist. Mirabell zeigt die Zähne. Wo
ich herkomme, läuft es ziemlich genauso. Die Drachin klatscht erregt
in die Pranken. Weißt du, ich bin gleichfalls Individualistin. Sie
zerkaut das Wort fast. Ein Einzelstück! Sie schnaubt. Aus ihrem Rachen
schlägt ein bisschen Feuer. Und da bist du auf eigene Faust den weiten
Weg hierher gekommen, hake ich nach. Stimmt. Aber mit meiner Tarnung
scheint es weniger weit her zu sein. Mirabell lacht schallend, während
sie leicht von einem Bein auf das andere schaukelt. Sag mal, musst du aufs
Klo? Ähhm. Ja. Schon seit geraumer Zeit. Ich schmunzle und gehe
los. Die Drachin bleibt auf Tuchfühlung. Vor uns teilt sich die Menschenmenge.
Erwachsene spüren wohl, dass da etwas ist, Kinder dagegen himmeln die Riesenechse
mit unverhohlener Begeisterung an. Die ganz Kleinen kreischen vor Wonne und zeigen
mit Fingern auf uns. Nein: auf Mirabell, die alle in Gedanken umarmt. Was
bist du? Ich bin Mirabell. Du weißt, was ich meine. Ich bin eine
Reisende. Erkläre es mir! Ich bin ein anderes du selbst. Was meinst
du damit? Wie kann das sein? Wie sollte es sonst sein? Alles hängt zusammen,
und bedingt sich. Was hier geschieht wirkt sich überall aus. Es gibt nur
das Hier, und es gibt nur das Jetzt. Vergangenheit und Zukunft sind Illusion.
Ihr seid, was wir geschaffen haben und wohin wir uns entwickeln. Mirabell
schlängelt sich durch die Tür und eilt zur Damentoilette. Für ihren
massigen Körper bewegt sich die Drachenfrau überaus anmutig. Ich denke
an Ruby, die inzwischen sicher längst in Berlin angekommen ist, verscheuche
aufsteigende Traurigkeit, wähle an der Theke zwei Kuchenstücke und nehme
an einem der hinteren Fenstertische Platz. Die Heizung läuft auf Hochtouren.
Ich bestelle Kakao. "Zwei Portionen. Mit Sahne, bitte!" Die schmächtige
Bedienung seufzt. Sie tut sich schwer mit dem Tablett. Die ist aber auch dürr.
Jetzt seufze ich. Was für eine Erleichterung! Mirabell
schiebt sich auf die Bank neben mich. Ihr Schenkel berührt meinen, während
sie Zucker auf der Sahne ihres Kakaos verteilt. Heiß, viel zu heiß.
Ihr Blick wandert vom Schokoladenkuchen zum Himbeertörtchen und wieder zurück. Halbe
halbe? Ihre Klauen zucken, während ich routiniert die Stücke
teile. Ich habe Hunger. Und esse für mein Leben gern! Sie schnuppert
an den Früchten, dem saftigen Boden, und schon ist das Törtchen verschlungen. Ahh!
Mirabell schmatzt. Das übertrifft meine Erwartungen um ein Vielfaches!
Eine äußerst gelungene Kreation! Sie dreht den Teller. Ihre
Augen beginnen den Schokoladenkuchen zu liebkosen. Die Drachin schluckt und atmet
tief ein, bevor sie das Backwerk in den Mund steckt. Hmmmm. Sehr schmackhaft!
Ist es wahr, dass hier mitten im Überfluss Leute verhungern? Auf diesem reichen
Planeten? Die Frage kommt ungünstig. Im letzten Moment schaffe ich
es, dem Stückchen Himbeere, das in die Luftröhre will, den richtigen
Weg zu weisen. Dabei zählt ihr zu den begabtesten Geschöpfen im
All, sinniert die Drachin, während sie Krümel vom Teller holt. Ihr
könnt fühlen, seid fähig, euch selbst zu reproduzieren und verfügt
über gigantische Geisteskräfte. Ihr seid mächtige Wesen. Vielseitig
begabt. Dennoch findet sich im Grundgefühl jedes Menschen Verzweiflung und
Angst. In den paar Stunden meines Aufenthaltes empfing ich unzählige Gedanken,
die sich mit der Möglichkeit und den Konsequenzen einer Selbsttötung
beschäftigten. Der ganze Planet scheint zu trauern. Mir ist nach frischer
Luft, und ich winke der Bedienung.
Du bist eine gute Beobachterin und
formulierst recht knapp, sage ich, als wir auf der Straße sind. Danke
sehr. Weißt du auch, wie wir so weit gekommen sind, Mirabell? Du möchtest
es wissen? Wirklich? "Ja sicher! Würde ich sonst fragen?"
Ich rufe es beinahe. Eine Passantin schüttelt im Vorbeigehen missbilligend
den Kopf. Mirabell grinst. Es gibt verschiedene Geschichten. Alle sind lang.
Viele verworren. Die meisten erzählen, dass vor mehreren Milliarden Jahren
die Erde, die damals noch Tiamat hieß, als großer, strahlender Planet
zwischen Mars und Jupiter um die Sonne kreiste, zusammen mit einem Mond, der bestimmt
war, eines Tages selbst zum Planeten zu werden. Regelmäßig, im Abstand
von Tausenden von Jahren, passierte auch der im Vergleich zu den anderen Himmelskörpern
rückläufig kreisende, riesige Planet Nibiru, oder Marduk, wie er gleichfalls
genannt wurde, die Bahn von Mars und Jupiter. Es war ein richtiges Ereignis im
Sonnensystem, wenn er kam. Nibiru zog majestätisch an Tiamat und den äußeren
Planeten vorbei und verschwand dann erneut für etwa 3600 Jahre. Einmal geschah
es, dass Nibiru auf seinem Umlauf der Tiamat so nahe kam, dass einer von Nibirus
Trabanten sie streifte und entzwei riss. Ein Stück wurde zusammen mit dem
Mond aus der Bahn geworfen und trägt uns derzeit als Erde. Mirabell lächelt.
Die andere Hälfte zerbrach in Millionen Teile und wurde zu dem Asteroidengürtel
zwischen Mars und Jupiter. - Wie berichtet wird, bekamen die Nefilim, die Bewohner
Nibirus, vor mehr als 430.000 Erdenjahren ein ziemliches Problem. Unbedachtes
Handeln hatte dazu geführt, dass die Atmosphäre ihres Planeten, ähnlich
wie nun auf der Erde, stark angegriffen und damit das Leben seiner Bewohner gefährdet
war. Einzig ein großzügiges Ausbringen von Goldstaub in den obersten
Schichten versprach Rettung. Nibirus Gold war schnell verbraucht. Eine Expedition
wurde ausgerüstet, das Edelmetall anderswo zu beschaffen. Die Wahl fiel auf
die Erde. Es machten sich ein Dutzend Führer, einige Hundert Arbeiter und
eine Gruppe, die im Mutterschiff in einer Umlaufbahn blieb, auf die Reise. Die
Zwölf und ihre Leute ließen sich in der Gegend des heutigen Irak nieder.
Damals wucherte dort ein riesiger Regenwald. Sie rodeten ein großes Gebiet
und bauten Städte. Das Gold dagegen wurde im Südosten Afrikas gefördert.
Und immer, wenn Nibiru der Erde nah war, sandten sie das Edelmetall zu ihrem Heimatplaneten.
Die Nefilim schürften lange Zeit. Und wenn sie im Mittel auch 360.000 Erdenjahre
leben, sind sie doch sterblich. Irgendwann langte es ihnen. Sie hatten fast 150.000
Jahre Staub geschluckt. Es war genug! Nun berieten die Anführer, was getan
werden konnte. Schließlich wartete Nibiru auf die nächste Lieferung.
Die Zwölf beschlossen, eine Arbeiterrasse zu erschaffen. Der Plan sah vor,
die DNA einer Primatenart, die es auf dem Planeten gab, mit der ihren, und darüber
hinaus, als Ausgleich sozusagen, mit der DNA der Zetazeen zu mischen, die damals
bereits über die Erde wachten. Es heißt, die Nefilim fügten außerdem
etwas "Lehm der Erde" dazu; sicher ist, dass noch weitere hoch entwickelte
Spezies ihre Gene beisteuerten. Es war ein großes Projekt. Sehr interessant.
Wenn auch nicht genehmigt. Die Forscher waren heiß darauf. Die Militärs
auch. Und Nibiru brauchte Gold. Die Überlegung ging dahin, diese neue Lebensform,
deren alleiniger Daseinszweck es wäre, Gold zu graben, völlig unter
Kontrolle zu halten. Nach Erreichung des Ziels würde die Art ausgelöscht
und die Nefilim auf ihren Heimatplaneten zurückkehren. Das war die Idee und
so kreierten sie Sklaven für die Minenarbeit. Die Geschaffenen waren jedoch
begabt mit den Fähigkeiten ihrer Erzeuger, ihnen mehr als ebenbürtig
und bald auch gefährlich. Boah. Klingt ja dramatisch. Und dann? Weiß
ich nicht. Die nächste Sendung habe ich verpasst. Ich bleibe abrupt
stehen und blicke sie an. Vielleicht ein bisschen streng. Die Echse zuckt merklich
zusammen. Ich erinnere mich an einiges aus Büchern und einem Kosmos
Reiseführer. Mirabell klingt zuversichtlich. Zudem hieß es,
auf der Erde wären alle Informationen verfügbar. Deshalb bin ich hergekommen!
Sie sieht mich abwartend an. Ich schüttle den Kopf. In Höhe meiner Augen
reflektieren die feuchten Schuppen auf ihrer Brust das Licht der Weihnachtsbeleuchtung.
Ich räuspere mich, schlucke. Na klar. Hier findet die Party ja schließlich
statt, frotzle ich und wende mich zum Gehen. Komm, Baby Blue, winke
ich sie weiter, lass uns erkunden, ob der olle Däniken recht hat, und
die alten Sumerer. Die erzählen die Geschichte ganz ähnlich. Bei
mir zu Hause schiebt sich Mirabell durch die Türöffnung. Passt. Ich
freue mich über die Deckenhöhe. Nun macht sich der Altbau mal richtig
bezahlt. Ich reibe mir die Hände und drehe die Heizung an. Ach, kann
ich bitte die Nüsse haben? Sie windet sich auf dem zierlichen Küchenhocker. Gerne,
bitte schön! Ich will nach dem Öffner greifen, sie kaut bereits,
sagt: Danke, und angelt sich ein Buch vom Regal. Sie hat den Pschyrembel
erwischt und stellt ihn schnell wieder zurück. Ich mache Kaffee. Hinter meinem
Rücken knackt es. Im Kern, fährt Mirabell fort, geht es
um Abhängigkeiten. Was hier auf der Erde passierte und als Folge weiter geschieht,
im Einzelnen und global, wirkt sich universell aus. Kannst du es dir vorstellen?
Nimm eine Reihe ... ähhm ... Dominosteine: Bewegt sich einer, fallen auch
die anderen. Im Bereich der Gedanken und Gefühle erfolgt die Ausbreitung
genauso. Was sich hier ereignet, ist überall zu spüren. Da kann
ich mithalten. Das Morphogenetische Feld, werfe ich ein und entzünde
die Kerzen. Sheldrake! Die Vorstellung eines Pools von Empfundenem, Gedachtem.
Jede Information ist frei verfügbar. Die Quantenphysik hat hier manches gebracht,
sage ich beinahe stolz und fülle die Tassen. Sicher, für einige
wenige hat sich dadurch etwas geändert, dämpft Mirabell meinen Enthusiasmus.
Aber die anderen? Wo steht beispielsweise deine Nachbarin, rein vom Weltbild
her? Ach nun, Mirabell, Physik ist selten Lieblingsfach. Und weißt du,
wenn Leute die meiste Zeit und Energie für das blanke Überleben aufwenden
müssen, sind sie froh, wenn Feierabend ist. Da werden Fragen nach dem Woher
und Wohin und dem Lebensglück schnell hoch geistig genannt und in die philosophische
Schublade geräumt. Du sagst, die Menschen sind dermaßen beschäftigt,
dass sie gar keine Zeit zum Nachdenken haben und überhaupt nicht merken,
wie sie tagein tagaus im Laufrad spurten? Über Generationen hinweg? Wirklich
ganz ungemein leidensfähig, diese Erdenbewohner. Mirabell schüttelt
den Kopf. Das kommt doch von irgendwo her. Was denken die denn, was das Leben
ist? Mir reicht es mit einem Mal. Ich fühle mich angegriffen. Was
sollen die Menschen schon denken, vom Leben, blaffe ich. Die meisten halten
es für einen Kampf, ein Hindernisrennen. Wie es sich eben darstellt, wenn
dir von Kindheit an vorgelebt und erzählt wird, dass es eine Knochenmühle
ist, eine Schinderei. Das Wort Schinden bezeichnete ursprünglich den Vorgang
des Hautabziehens, und von manchen Leuten heißt es noch in unseren Tagen,
dass sie sich bis aufs Blut schinden. Andere reißen sich den Arsch auf,
um irgendetwas zu erreichen. Im Schweiße deines Angesichts, ist die Maxime.
Das Leben ist schwer, das Credo. - Und wenn ich dich richtig verstanden habe,
Drachenlady, waren es Leute wie du, die uns Menschen das eingebrockt haben. Oder?
Ich verbringe eine unruhige Nacht. Träume von Planetenkollisionen und
DNA-Strängen, die durchs All treiben, plagen mich. Am Morgen finde ich Mirabell
auf dem Boden sitzend im Arbeitszimmer. Hinter ihr surrt der Rechner. Sie ist
von Büchern umgeben; eines hält sie in der Rechten, während sie
mit den Klauen der Linken blitzschnell die Tasten bedient. Hi, Baby Blue. Sie
dreht den Kopf in meine Richtung. Hi, Claudia. Guten Morgen. Es ist überaus
interessant. Ich brauche noch ein Weilchen. Sie ist bei Google auf der Seite. Ich
schäume Milch auf, als sie in die Küche kommt. In der Frühe mag
ich es die erste Zeit lieber still und besinnlich. Während du geschlafen
hast, ist es mir gelungen, ein wenig mehr in Erfahrung zu bringen. Mirabell
sprüht vor Elan. Sie breitet einige Wälzer und Zettel vor sich auf dem
Tisch aus. Soso. Selbst meine Gedanken klingen müde. Interessiert
es dich nicht mehr? Natürlich. Aber ein bisschen später verstehe
ich zusätzlich, was du damit sagen willst, grinse ich sie an. Meine
Menschwerdung ist im Gange, Mirabell. Ich muss erst mal zu mir kommen. Mich orientieren.
Etwas in der Art. Die Drachin nickt. Sie schnappt sich ihre Aufzeichnungen.
Ich schlürfe Kaffee und beobachte die Vögel vor dem Fenster. Sie hacken
zu mehreren im Blumenkasten, schaukeln in den Ästen der Birke. Ein Panzer
fährt nebenan dröhnend über den Platz. Was ist das denn?
Mirabell reißt die Augen auf und drängelt ans Fenster. Ein Buch fällt
polternd zu Boden. Ich rette mit schnellem Griff meine Lieblingstasse. Beeindruckend,
säuselt die Drachenlady. Das Haus vibriert. Einige Arbeiter in blauen Overalls
folgen dem Gefährt um die große Halle. Eine Produktionsstätte
mitten in der Stadt? Ich denke, ich bin in Europa? Mirabell schüttelt
den Kopf. Da habe ich vorhin noch gelesen, dass es verboten ist, solches Gerät
innerhalb von Wohngebieten zu bauen. Es gibt internationale Vereinbarungen. Was
halten denn die Einwohner der Stadt davon, dass hier diese mörderischen Teile
herumdonnern? Die meisten ignorieren die Sache einfach, denn der Standort sichert
Arbeitsplätze und bringt Steuergelder. Zudem ist alles was mit "Frieden"
zu tun hat, im normalen Leben wenig gut angesehen. Wie die Leute, die zuviel davon
reden. Das sind dann die "Verweigerer" die lieber Omas und Opas pflegen,
als mannhaft die Waffe in die Hand zu nehmen. Ich weiß, ich weiß,
unterbricht mich die Drachin: Drückeberger. Langhaarige. Weicheier und
Warmduscher. Vaterlandslose Gesellen. Friedensjammerer. Hey, sag mal, wo hast
du denn gegoogelt? Mirabell zeigt ein strahlendes Lächeln. Ich
war überall. Wirklich! Es ist grandios, was an Informationen vorhanden ist.
Ich bin ein gutes Stück voran gekommen! Wird es eigentlich tatsächlich
für schlauer gehalten, kalt zu duschen? Ich muss lachen, schüttle
den Kopf. Erzähl weiter, bitte ich sie und setze mich wieder an den
Tisch. Schon zu dir gekommen? Ich gieße Kaffee nach. Teile
Dein Wissen mit mir, raune ich und schmiere uns Brote. Also, Mirabell
dreht die Tasse zwischen den Klauen, wir erinnern uns: Die neue Rasse war geschaffen.
Jetzt wollten 600 Nefilim, die ihr halbes Leben immer nur geschuftet hatten, Spaß.
Diese paar Sternenreisenden trieben eine Menge Unfug, bis die Sache beinahe außer
Kontrolle geriet. Und es hatte wie immer auch mit Sex zu tun. Ich habe Beweise
entdeckt. Schwarz auf weiß. Sie haben es aufgeschrieben, die Kerle. Mirabells
Zähne blitzen: " ... da sahen die Gottessöhne ... wie schön
die Töchter der Menschen waren und nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten."
Na! Die Drachin knurrt. Nehmen sich, was sie wollen! Pah! Nun, jedenfalls,
um sich das Organisatorische zu erleichtern, setzten sie Geschichten von Göttinnen
und Göttern in die Welt, später von einem Einzigen, der keine anderen
neben sich duldet; männlich, eitel, brutal. Das Weibliche, die Sexualität,
das Genießen, die Phantasie, die Liebe, das Gefühlsmäßige,
alles, was Freude bereitet, wurde schlecht gemacht. Systematisch. Mirabells
Pranke trifft den Tisch. Das Netz ist dicht geknüpft, genial und einfach.
Den Leuten wird eingebläut, dass sie Sünder sind und der Gnade bedürfen.
Die Idee des Mangels wird propagiert, die Zeit von geschäftstüchtigen
Leuten eingeteilt. Gesetze und Abgaben drücken das Volk. Der Kampf ums bloße
Überleben hält alle zunehmend auf Trapp. Viele Menschen verlieren die
Courage zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und auch den Sinn für
die Selbstverantwortung, denn nicht einmal der Tod verheißt Erlösung;
dann droht nämlich die Hölle, die Bestrafung für das Erdendasein. Ich
nicke. Ein einfaches Gerippe, das viel Fleisch trägt. Ja, Fleisch!
Gut, dass du mir das Stichwort gibst! Es beginnt da, wo Gott das Tieropfer des
Abel den vegetabilen Gaben Kains vorzieht. Die sind ihm nämlich kein Wohlgeruch!
Lies bei Gelegenheit diese Apokryphen. Von einem Herrn Luther den Gläubigen
als Erbauungslektüre empfohlen. Da geht es seitenweise ums Häuten, ums
Menschenquälen. Ganz detailliert. Im Mittelalter gab es sogar gezeichnete
Folteranweisungen für die Knechte, die nicht lesen konnten. Flammenzungen
schlagen aus Mirabells Rachen. Du bist Vegetarierin, bemerke ich verständnisvoll
und bin ein wenig besorgt um die Kücheneinrichtung. Nun, so gut das
überhaupt möglich ist, erwidert die Drachenfrau. Es gab unlängst
eine interessante Sendung vom "Leben auf dem Salatkopf". Da wurde gezeigt,
was alles 'rumläuft auf dem Gemüse; selbst nach dem Waschen! Mirabell
verdreht stöhnend die Augen. Ich frühstücke jetzt erst mal,
werfe ich ein. Die Drachin zwinkert und widmet sich erneut ihrer Lektüre.
Ich ziehe mit Teller und Tasse an den Rechner. Gleich mal die Mails vom Server
kratzen, wie Ruby sagen würde. Vielleicht hat sie ja geschrieben. Aber da
sind nur etliche Spams; ein paar Grüße zu Weihnachten und Neujahr;
keine Zeile von ihr. Enttäuscht lege ich mich mit einer Schachtel
Pralinen auf das Sofa. Feodora, die große Auswahl. Ein Kissen im Rücken,
die Beine zugedeckt, betrachte ich das Schneetreiben vor dem Fenster und esse
Nougatkonfekt. Die Wärme macht mich schläfrig. Sacht gleite ich in das
Reich der Träume, durchwandere eine faszinierende Schneelandschaft. Von den
hohen Tannen hängen funkelnde Zapfen wie aus Glas. Sie klirren, wenn der
Wind sie aneinander stoßen lässt. Der Himmel ist bedeckt. Ich laufe
den Hügel hinunter und treffe den Weihnachtsmann. Er brummt, dass alle Menschen
Sünder sind, und Frauen in der Politik nichts zu suchen haben. Ich lache
so laut, dass ein paar Eiszapfen abbrechen und herunterfallen. Ruby kommt auf
einem Rentierschlitten gefahren und applaudiert mir. Sie holt einen Kopfsalat
aus der Tasche und erklärt, dass sich das Problem lösen lässt.
Ihr Flammenhaar weht über dem weißen Schnee. Ich sage, dass ich lesbische
Vegetarierin bin, und außerdem ganz verrückt nach ihr. Endlich habe
ich alles gestanden. Ruby küsst mich. Der Weihnachtsmann beginnt zu schimpfen;
er intoniert "Jingle Bells", keine beachtet ihn, und er verschwindet
im Unterholz. Als wir allein sind, öffnet Ruby den Serverschrank, der hinten
auf dem Schlitten steht. Er ist voller Rosen. Die Sonne scheint strahlend hell.
Der Himmel ist blau. Ruby meint, dass ihr zu warm ist. Sie pellt sich aus der
Jacke. Auch ich finde es mit einem Mal recht mollig und entledige mich des Pullovers.
Sie streift ihre Hose ab. Ich die meine. Unsere kleinen schwarzen Slips schweben
gemeinsam zu Boden. Der Schrank hat sich in ein Bett verwandelt. Ruby nimmt meine
Hand und zieht mich auf die Matratze. Wir umarmen einander. Zärtlich küssen
wir uns. Ich streichle sie behutsam. Meine Finger erkunden ihren schönen
Leib, den Rücken, die weiche Haut unterhalb des Nabels, den Busen. Die Nippel
sind groß und fest. Ich sauge an ihnen. Ruby stöhnt. Sie greift mir
ins Haar. Ihre Zunge leckt fordernd in meinen Mund. Ich bin feucht geworden, dränge
mich an sie. Ruby knetet meine Pobacken. Voller Ungeduld rutsche ich tiefer ...
Es tut einen ziemlichen Rums, als ich auf dem Flokati neben der Couch lande.
Abrupt bin ich im Hier und Jetzt. Nichts angeschlagen, und die Drachin scheint
anderweitig beschäftigt. Ob sie Träume lesen kann? Wenig wahrscheinlich,
beruhige ich mich und tappe ins Bad. Während ich im heißen Wasser
liege, höre ich Mirabell in der Küche werken. Zweimal benutzt sie den
Mixer. Bald erreicht Wohlgeruch meine Nase. Ich bin in den Kleidern und gekämmt,
als sie zum Essen ruft. Wow, Mirabell! Du bist eine Spitzenköchin!
Ganz ausgezeichnet! Ich unterbreche nur ungern mein Mahl, um zu loben. Aber
es muss sein. Das Omelette mit Pilzen, Kräutern und Käse ist äußerst
delikat. Viel zu hastig schaufle ich die Speise in mich hinein. Die Drachin kaut
sorgfältig und lässt sich beim Genießen Zeit. Wer ist Ruby,
fragt sie nach einem Schluck Wein. Also doch. Na, sag schon. Mirabell
blinzelt mich freundlich an, und ich beginne zu erzählen: Von jenem ersten
Tag, meiner spontanen Faszination für die aparte Rothaarige, meinen heimlichen
Investigationen und den heillosen Versuchen, Ruby "zufällig" irgendwo
zu treffen. Ich schildere meine wachsende Verzweiflung, weil ich sie in diesem
ansonsten eher übersichtlichen Städtchen wieder und wieder verfehlte.
Schließlich die Jubiläumsfeier bei Heinzmann und Söhne. Stocksteife
Angelegenheit. Ich hatte es mir in einer stillen Ecke gemütlich gemacht,
als ich Ruby am Büffet erspähte. Es war, als ginge an diesem Tag die
Sonne zum zweiten Mal auf. Sie stand da, einfach entzückend, ich pirschte
mich heran, wir kamen ins Gespräch und dann rasch vom Hundertsten ins Tausendste.
Schnell entdeckten wir gemeinsame Interessen. Seitdem unternehmen wir eine Menge
und haben viel Freude zusammen. Es ist keinen Moment langweilig. Mit Ruby kann
ich mich prächtig über Filme, Bücher und Musik austauschen; wir
ergänzen uns bestens. Und wir favorisieren den gleichen Verein. Alles könnte
sich - vielleicht - ganz wunderbar entwickeln, wenn ich es nur wagen würde,
meine Gefühle zu zeigen. Viel leicht. Genau. Wie bitte? Viel leicht.
Nimm es wörtlich. Was soll ich? Es dir leicht machen! Zeig deine Gefühle!
Während
die Spülmaschine das Geschirr reinigt, erkunden Mirabell und ich den Bergpark.
Wir besuchen alle Grotten und Tempel auf dem Weg zum Herkules. Die Drachin sprintet.
Ich halte mit, so gut ich kann. Manchmal gebe ich vor, interessiert einen Baum
zu betrachten, einen abgebrochenen Ast oder eine verschneite Bank, um zu verschnaufen.
Oberhalb der Kaskaden angekommen, bestaunt Mirabell die Keule des Riesen. Mein
Blick geht über Kassel hin nach Osten. Dort am Hügel liegt Rubys Wohnung.
Der Wind reizt die Augen, zerrt an den Kleidern. Mich fröstelt. Heißer
Kakao wäre gut. Die Hände tief in den Jackentaschen, stapfe ich vor
der Drachin talwärts. Meine Gedanken sind bei Ruby. Ob nachher eine Mail
von ihr da ist? Ich wünsche, dass endlich Nachricht von ihr kommt. "Wenn
es mir schlecht geht," sagte sie einmal, "dann lasse ich das Schreiben".
Im
Café holt mich Mirabell unvermittelt aus meinen Überlegungen, indem
sie nach den Stimmen meiner Kindheit fragt. Erst zögere ich, dann öffnen
sich die Schleusen der Erinnerung. "Dir wird das Lachen noch vergehen",
wurde ich zuweilen gewarnt, wenn ich übermütig war und mich des Lebens
freute. Oder: "Bald beginnt der Ernst des Lebens". Ständig wurde
etwas an mir bemängelt: Ich war zu klein, zu laut, zu langsam; ich verursachte
Kosten, machte Schmutz, verstand nichts und war zur Bewältigung wirklich
wichtiger Aufgaben nicht zu gebrauchen. Besonders zu schaffen machte mir die Aussage,
ich sei ein Sargnagel. Ich werde ganz still, als mir das Schlimmste in den
Sinn kommt: "Du machst die kaputt, die dich lieben".
Oh.
Die Drachin schüttelt sich. Bei meiner Art bleiben die Eltern in der Regel
unbekannt. Sie verlassen das Gelege, bevor wir die Hülle aufbrechen. Betreut
werden die Jungen von denen, die dazu bereit sind. Es gibt keine Verpflichtung.
Niemand kann gucken, ob sein Erbgut sich richtig verhält und entwickelt.
Ihr dagegen steht unter vielfacher Beobachtung, werdet ständig für gut
oder schlecht befunden. Euch demütigen Leute, deren Selbstausdruck frühzeitig
in gleicher Weise verkrüppelt wurde. Resultat des Ganzen ist, dass psychische
Auffälligkeiten und Behinderungen so verbreitet wie verpönt sind. Dies
ist ein Planet von Neurotikern, Phobiekern und Depressiven. Ein wahres Psychologenparadies.
Das weite Feld der Psychosomatik lebt davon, dass ihr es vorzieht, ins Körperliche
zu gehen. "Lieber Bein ab, als arm dran", schnaubt Mirabell.
Das Getrenntsein ist eine Erfindung, wie das Altern und das Sterben. Eure Knochen
werden müde, weil ihr es seid. Es gibt keinen Tod, nur Veränderungen.
Sie haben euch belogen. Euch wurde gesagt, dass ihr da aufhört, wo die Haut
endet, aber das ist falsch. Die Epidermis ist eine äußere Schutzschicht,
eine Verpackung für die grob stofflichen Teile. Ihr seid Körper, Seele
und Geist. Eine schöpferische Trinität und einzigartig im gesamten Kosmos.
Was sich auf der Erde wieder und wieder an Tragödien abspielt, wird auf entfernten
Welten als Reality-Show mit extrem langer Laufzeit angesehen. Horror sells. Auch
anderswo. Einige Wesen sind geradezu süchtig nach diesen endlosen irdischen
Dramen. Mirabell kippt sich den Rest meines Kakaos in den Hals. Ihr erschafft
mit euren Gefühlen. Eine Idee, die euch erschreckt, die sich dem Körper
mitteilt, sich auslebt in Ängsten und Erwartungen, kreiert mit vielen gleichartigen
Vorstellungen eure Welt. Phantasien sind etwas überaus handfestes. Sie bestehen
aus der Kraft der Gedanken. Wirklichkeit ist, wenn das innere Bild so stark wird,
dass es sich materialisiert. Wir alle gestalten das Universum der Möglichkeiten.
Ständig. Nimm diesen Irrwitz. Mirabell zeigt auf das Schaufenster der
Apotheke gegenüber: "DAS SCHLECHTE WETTER BEDROHT IHRE GESUNDHEIT!
SCHÜTZEN SIE SICH VORSORGLICH GEGEN ERKÄLTUNGSKRANKHEITEN!" Das
Schild wird gehalten von einer gänzlich vermummten Puppe in gelbem Ölzeug.
Sie trägt hohe Gummistiefel, Handschuhe, zwei dicke Schals und eine bunt
geringelte Mütze. Was ist das, diese "Vorsorge"? Schon mal
darüber nachgedacht? Da ängstigen sich Leute prophylaktisch. Auf Vorschuss,
sozusagen. Sie misstrauen dem Leben! Du kannst auch sagen, die Menschen übernehmen
Verantwortung für ihre Gesundheit, wende ich ein. Indem ich behaupte,
das Wetter ist schlecht, es bedroht mich und ich muss mich dagegen schützen?
Mirabell wiegt den Kopf. Stimmt, da geht es mir gleich wesentlich besser.
Da habe ich AUSSEN etwas, was ich fürchten kann. Einen Feind. Das lenkt super
ab vom INNEN. Von dem, was ich bin. Dabei sind wir EINS. Drüben wird
geschlossen. Als der Apotheker an uns vorbeigeht, leuchtet seine gerötete
Nase. Die Augen sind glasig. Er zückt ein Taschentuch. Vorsorge, flötet
Mirabell.
Auf dem Heimweg führe ich die Drachin zu meiner bevorzugten
Futterkrippe. Im ersten Moment ist Mirabell von der langen Salattheke äußerst
angetan. Ihre Nüstern beben. Ein einziger flüchtiger Blick auf die Speisekarte
genügt, und Baby Blue zieht mich energisch vor die Türe: Schweineschnitzel,
Zigeunerschnitzel, Räuberschnitzel, Hamburger, Frankfurter, Wiener Würstchen
... Sag mal, ächzt sie, das kann nicht sein, oder? Ich meine, wenn ein Hähnchendöner
ein Döner vom Hähnchen ist, woraus, bitte, besteht dann ein Kinderdöner? Wir
essen zu Hause. Bratkartoffeln mit Kräuterquark. Wieder keine Mail von Ruby.
Ich überlasse Mirabell den Rechner und lese ein wenig, bevor ich zu Bett
gehe. Es tut gut, mich auszustrecken. War das ein langer Spaziergang! Bestes Training
fürs Ärschchen. Ich lächle. Meine Hände gleiten über
meinen Körper. Fühlt sich knackig an. Die Brustwarzen sind in der kühlen
Schlafzimmerluft fest geworden. Ich presse die Oberschenkel zusammen, bewege das
Becken. Meine Klitoris pocht. Wann habe ich zuletzt? Egal. Am besten die Drachin
mental ganz weit weg schieben und das Denken vergessen. Ich streichle meinen Busen.
Die rechte Hand gleitet zwischen meine Beine. Geübt verwöhne ich mich.
Es
ist ein immenser Unterschied, ob du Dinge suchst oder sie findest, sagt Baby
Blue, als ich früh am Morgen die Wohnung auf den Kopf stelle. Irgendwo
muss dieser blöde Schlüssel sein, schimpfe ich gereizt. Mirabell
lehnt am Türrahmen und wartet geduldig. Irgendwann kocht sie Kaffee. Ich
meine es ernst, fährt sie fort, als ich mich erschöpft zu ihr setze.
Die Worte "Suchen" und "Finden" bezeichnen zwei völlig
verschiedene Zustände. Wenn du suchst, hast du zu tun, du bist beschäftigt,
und zwar auf unbestimmte Zeit. Finden meint, dass du bereits hast, was du wolltest.
Du nimmst den gewünschten Gegenstand einfach von da, wo er sich befindet.
Mirabell angelt sich einen Lebkuchen aus der Dose. Hhhmmm. Derart
gnadenlos simpel? Natürlich, behauptet die Drachin mit vollem Mund,
denn ihr erschafft, indem ihr euch auf etwas festlegt. Ihr trefft die Entscheidung,
und das Leben reagiert darauf. Es ist das bestgehütete Geheimnis auf diesem
Planeten, dass ihr Schöpfer seid. Es wurde alles unternommen, damit ihr euch
klein, hilflos und schuldig fühlt. Aber ihr seid mächtig und zu allem
fähig. Was immer ihr wählt, ist euer. Ich finde den Schlüsselbund
auf dem Weg ins Bad. Er steckt zwischen Pantoffeln, die ich selten trage. Bestimmt
ist er von der Kommode gefallen. Nachdenklich gehe ich die Zimmerpflanzen meiner
Nachbarin gießen. Kann es wirklich so einfach sein?
Ich habe
mir etwas überlegt. Möglich, dass es klappt. Das Heftchen hier brachte
mich auf die Idee. Mirabell wedelt beim Frühstück mit einer Broschüre
des Deutschen Sportbundes. Hier wird erklärt, wie Menschen zuverlässig
und schnell ihre Laune ändern können, indem sie einen einzigen Gesichtsmuskel
bewegen. Komm, bitte, lass es uns gleich einmal machen. Es funktioniert, indem
du ein kleines Lächeln wagst. Mirabell verzieht zu Demonstrationszwecken
die Lefzen; meine Mundwinkel schnellen augenblicklich nach oben. Bravo!
Klasse. Halte das für etwa neunzig Sekunden! Dann hat nämlich der Muskel
in der Backe lange genug auf einen anderen Muskel am Ohr gedrückt, und dieser
wiederum im Gehirn Bescheid gegeben, dass nun Endorphine gebraucht werden. Daraufhin
beginnt dein wundervoller Körper damit, diese Glückshormone auszuschütten.
Vielleicht haben wir hiermit das lange gesuchte Perpetuum Mobile endlich gefunden.
Stimmung ist immer auch ansteckend, musst du wissen. Ich griene, zähle
ergeben bis neunzig und sage dann, etwas leichtsinnig geworden: Das heißt,
ich kann mich jederzeit selbst ganz einfach glücklich machen? Ja, und
ohne einen Finger zu rühren. Mirabell zwinkert. Der Punkt geht an
sie.
Weihnachten mit der Drachenfrau. Mirabell kocht. Ich sortiere Fotos,
die ich am Abend zeige: Ruby im Tretboot, winkend auf dem Matterhorn, elegant
unter einem Sonnenschirm in Lübeck, lachend im Cafe. - Sieh mal, wie schön
sie ist. Ich mag ihre Nase, den Mund, die kleine, spitze Zunge, die sie mir manchmal
im Scherz herausstreckt. Ihre fein geschwungenen Lippen. Wenn sie wüsste,
was ihr Anblick zuweilen in mir auslöst. Ah! Hier ein Bild, das am Tag von
Clarissas Fete entstand. Wir sind beide darauf zu sehen. Ich noch mit langen Haaren,
im Hintergrund die Fulda. Ein Passant fotografierte uns. Als er fragte, ob wir
zusammen gehören, sagte Ruby einfach "ja". Vermutlich dachte sie
sich nichts dabei. Mir wurde ganz heiß. Ich lief den restlichen Tag wie
auf Watte. Oft wird mir schon anders, wenn sie mich nur mit ihren Smaragdaugen
ansieht. Ruby ist belesen, herzenswarm und klug. Eine wirkliche Bereicherung in
meinem Leben. Ich habe Angst, mich zu offenbaren. Ich fürchte, sie als Freundin
zu verlieren. Wie kommst du auf die Idee, du könntest etwas verlieren,
was zu dir gehört? Du meinst ... sie und ich ... wir ... Die Drachenlady
nickt. Hast du mir eben selbst erzählt: Ruby hat "ja" gesagt.
Nimm sie beim Wort. Hey, ich freue mich für dich. Für euch. Ihr seid
ein schönes Paar. Mirabell klopft mir auf die Schulter. Ich finde
übrigens, dass du dir viel zu viele Gedanken machst. Sieh es mal aus dieser
Perspektive: Jede Handlung war nötig, uns hierher zu bringen. Alles ist gut.
Die Evolution schreitet voran. So weit es dich persönlich betrifft, und auch,
was die Menschheit insgesamt angeht. Die Frauen, die sich selbst achten, werfen
die Ketten des Geistes als erste ab. Tiamats Töchter haben die Kraft zum
Träumen. Sie sind die Gebärerinnen einer neuen Zeit. - Doch lass uns
vom Plural in den Singular wechseln. Was eine, nur eine einzige allein bewegen
kann, sind Welten. Es bedarf keiner Kampagne, oder Massenbewegung. Der Mut des
Individuums zum persönlichen Glück bewirkt den Wechsel. Diesmal sind
die Frauen am Zug. Sei dir das Wichtigste, das Wertvollste im Leben. Liebe dich,
wie du bist. Es wird alles verändern, wenn du dich selbst annimmst. Wie das
Lächeln, an dem du die erkennst, die gleichen Sinnes sind. - Also,
mir ist das zu pathetisch, erwidere ich nüchtern. Wäre ja toll.
Aber glaubst Du wirklich, die Sache verbreitet sich so einfach? Ich weiß
es, flüstert Baby Blue und wird durchsichtig. Mit einem leisen Plopp
verschwindet sie.
Ich schlafe wenig. Am Morgen laufe ich über den
Königsplatz, besuche Cafés, in denen wir uns unterhielten, renne zum
Herkules. Keine Spur von der Drachin, doch mir begegnen etliche Frauen, die allesamt
recht fröhlich scheinen. Vermutlich täusche ich mich. Mirabell fehlt
mir. Ich beschließe, ihrem Rat zu folgen und bald mit Ruby zu sprechen.
Ich brauche Gewissheit. Im schlimmsten Fall kann sie mich schief angucken, das
Angebot ablehnen und mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Dann weiß
ich jedenfalls, woran ich bin. Und es ist immer noch früh genug, mir die
Augen auszuheulen. Abends kratze ich müde die Post vom Server: Zwanzig
Mails betreffend Viagra und Penis enlargement, zwei Sätze von Ruby. "Ich
nehme den nächsten Zug. Alles weitere mündlich." Die Nachricht
steht auf einer virtuellen Grußkarte. Es dauert eine Weile, bis das Bild
zu erkennen ist: Ein Foto von Judy Francesconi; zwei Frauen, die sich liegend
umarmen. Ich bin wie elektrisiert. Mein Herz beginnt zu hämmern. Die Mail
wurde 15 Uhr 20 abgeschickt. Jetzt ist es halb zehn. Sie muss längst in der
Stadt sein. In diesem Moment schellt es an der Türe.
Als wir Tage
später Hand in Hand durch die Stadt spazieren, macht mich Ruby auf etwas
aufmerksam. Die Busfahrerin, einige Mädchen in der Unterführung, die
notorisch übel gelaunte Bedienung im Café und unzählige weitere
Artgenossinnen machen einen völlig entspannten Eindruck. Uns begegnen wieder
und wieder Frauen, die für diesen eisigen Mittwochnachmittag erstaunlich
heiter wirken. Ruby und ich lächeln gleichfalls im kalten Wind. Bei einem
Kakao erzähle ich ihr von der Drachenlady. "Mirabell hat recht behalten",
sage ich am Ende meines Berichts: "Tiamats Töchter träumen."
Copyright Diana P. Bailey |