Daddy
Invisible von Diana P. Bailey Ich war keines dieser blauäugigen,
blondgelockten Engelchen. Meine Augen waren groß und dunkel, und mein glattes,
fast schwarzes Haar durchzogen einige dicke, starre Borsten, die selbst dem Onduliereisen
meiner Mutter erfolgreich widerstanden, und deren Vorhandensein mit den vom Vater
vererbten, indianischen Anteilen in meinem Blut erklärt wurde. Er
war es, der das Fremdsein in mein Leben brachte, doch ich wollte Gleichsein, erlernte
meine Muttersprache und Mama und ich wünschten uns zwar weiterhin »sweet
dreams and see you in the morning« und manchmal war das Englische auch ein
Ausdruck der Vertrautheit und wie eine Geheimsprache zwischen ihr und mir, aber
zumeist vermieden wir es. Mama erzählte nicht oft von meinem Vater, und wenn
sie es tat, so sprach sie gut von ihm. Sie bot mir ganz früh an, ihn beim
Vornamen zu nennen. Ich nannte ihn Daddy Invisible. So hatte ich nötigenfalls
auch einen, wenn es im Gespräch mit den anderen Kindern einmal gefragt war,
und meiner war sogar unsichtbar. Schon bald lernte ich, meinen Nachnamen
zu buchstabieren, mit dem die Menschen um mich herum Schwierigkeiten hatten, vor
allem mit dem Ypsilon am Schluss, und war in jedem neuen Schuljahr immer gleich
die erste, die sozusagen auffällig wurde, wegen der Staatsangehörigkeit,
dem Namen, und den geschiedenen Eltern, denn ich war weit und breit die einzige
Nichtdeutsche und das einzige Scheidungs-Kind, wie die Erwachsenen in besonderem
Tonfall sagten. Es gab ein Wort, das ähnlich ausgesprochen wurde
und gleichfalls nach Schande schmeckte, es hieß Besatzungs-Kind, und es
war das, was herauskam, wenn sich ein junges deutsches Mädchen mit einem
Soldaten der Siegermächte einließ. Meine Großmutter hatte
längst vergeben. Sie sprach oft und mit einem Lächeln von meinem Vater,
und ich merkte, dass sie ihn noch immer sehr mochte. Seine blendend weißen
Zähne, und dass er literweise Milch trank und keinen Alkohol, erinnerte sie;
ehrgeizig und fleißig sei er gewesen, immer höflich zu ihr und natürlich
hatte ihm meine fesche Mutter gefallen, jung, klavierspielend und mit den besten
Englischkenntnissen, und die beiden waren ein sehr schönes Paar, mein Vater
schon auch recht schneidig, in seiner Uniform, da könnte sie meine Mutter
ja verstehen. Aber... Sie war am Tag vor ihrem 21. Geburtstag mit ihm
durchgebrannt, heiratete am nächsten in München, teilte es ihren überraschten
Eltern anschließend in einem Telegramm mit, folgte ihm ins Land der unbegrenzten
Möglichkeiten und gebar mich knapp zwei Jahre später, am 18.01.1960
in Pulaski, einem kleinen Ort in Tennessee, im Süden der USA. Meine Mutter
verließ meinen Vater als ich reisetaugliche anderthalb Jahre alt war, und
kehrte mit mir in ihre bayerische Heimat und zu ihren Eltern zurück.
Der Großvater hat ihr nie verzeihen können und ließ sie den
Ungehorsam hart büßen. Mit einem Ami, einem geschiedenen noch dazu,
musste sie sich einlassen und mit einem Kind wiederkommen. Ich erfuhr schon früh,
dass mein Vater sich um die Alimente bitten ließ. Ich lebte auf Kosten der
Großeltern, weil er nicht pünktlich zahlte. Und ich wusste
bald, dass ein Junge meinem Vater wohl lieber gewesen wäre und es für
den Großvater bereits die zweite Enttäuschung darstellte: nach der
Tochter nun auch noch eine Enkelin. Wie meine kluge Großmutter rasch
erkannte, war ich eher zwei Buben, stieg über Zäune, auf Dächer,
über Steine im Fluss, fiel in selbigen, riss ständig Hosen und Schuhe
kaputt und es war ein Segen, dass sich mit ihr eine gelernte Damenschneiderin
an meiner Seite fand, die schnell und fachkundig Wunden an Kind und Kleidung versorgte.
Ich spielte Fußball, trainierte hart und drosch den Ball kräftig gegen
die Heuschoberwand auf der eines Tages mit großen, weißen, windschief
hingemalten Buchstaben der Aufruf stand: »MACHT KAPUTT WAS EUCH
KAPUTT MACHT«. Zuweilen vermöbelte ich auch die Buben aus der
Nachbarschaft und hieß dann irgendwann »Der Russe« bei den Leuten,
weil ein Russe das wildeste war, was sie sich an Mensch vorstellen konnten. Gefürchtet
waren noch die Chinesen, von denen es ganz viele gab. Die hießen damals
»Die gelbe Gefahr«. Die Amerikaner hießen »Die Befreier«
und waren Freunde, Verbündete und Garanten des Friedens. Aber die Russen,
»Die Kommunisten«, so wurde gesagt, waren die wirklich gefährlichen.
Es gab einen Großonkel, der bei Familienfeiern abseits saß und
zitternd und laut schlürfend Milchkaffee trank, der als einziger beim Rauchen
im Zimmer bleiben durfte und zuweilen still vor sich hinweinte. In der Gefangenschaft
hatten ihm die Russen die Zähne ausgetreten, wurde mir erklärt, und
ich erfuhr, dass ein Krieg nicht vorbei ist, am Tag der Kapitulation. In
den Sechzigern waren noch viele Kriegsversehrte auf den Straßen zu sehen;
es gab die Berliner Mauer, eine junge Dame, die den Bundeskanzler ohrfeigte, die
Amerikaner flogen auf den Mond und Einsätze über Vietnam, und überall
protestierten Studenten, von denen einer Teufel hieß, wie der Taubstumme
Karl Teufel, der die Nazis trotz seiner Behinderungen überstanden hatte und
den junge nervöse amerikanische Soldaten bald nach Kriegsende auf der Straße
nach Irschenberg erschossen, weil er nicht reagierte, als sie ihn von hinten anriefen,
und der einfach weiterfuhr auf seinem Fahrrad, nichtsahnend in den Mai und den
ewigen Frieden hinein. Mein Vater war auch amerikanischer Soldat; ich
kannte seine militärische Erkennungsnummer und eine Zeitlang lernte ich die
Ränge mit, von Leutnant bis Major. Im Sommer 68 kam er mit
seiner neuen Frau auf der Durchreise nach Italien vorbei und ich beantwortete
die Frage, ob ich mich denn noch an ihn erinnern könne, sehr schnell mit
Nein, ohne groß in mich hineinzublicken und mich auf Nähe, Verbindlichkeit
und ein längeres Gespräch mit diesem Fremden einzulassen. Meine
Mutter schlug ihm sein Ansinnen, mich für ein paar Wochen in den Süden
mitzunehmen, zu meiner Erleichterung rundweg ab. Jahrelang wurde dann
vermutet, seine neue Frau hätte das Bratfett anschließend nicht aus
Dummheit sondern aus Rache in den Ausguss geschüttet, was diesen dann total
verstopft und eine aufwändige Reinigungsaktion nötig gemacht hatte.
Ich mochte lieber an Unwissenheit als an böse Absicht glauben, aber es
war mir auch in einer Weise peinlich, dass ich meine in Glaubensdingen zuständige
Großmutter fragte, ob ich Gott um Hilfe bitten könnte, damit der Vater
mich besser nicht mehr besuchen kommt, mit seiner ungeschickten Frau. Mit
Gott war das allerdings so eine Sache. Mit Sieben war ich in den großen
Ferien jeden Morgen zur Frühmesse gegangen, als einziges Kind unter alten
Frauen und Männern, und hatte gebetet, mehrmals am Tag, dass meine Mutter
mit dem Trinken aufhört und wir wieder glücklich zusammen leben können.
Und es hatte nichts geholfen. Nichts. Ich weiß noch, dass ich auf
freiem Feld einmal hinaufbrüllte, diesbezüglich, zum Vater im Himmel,
zornig und laut, und mir sagte, dass er meine Bitte nun sicher besser hören
kann, so weit oben und entfernt, wie er da ist, über den Wolken im Blau.
Davon habe ich der Großmutter dann aber nichts erzählt und eigentlich
hatte ich es wirklich gut: Ich wuchs recht frei in der Natur und mit den Hühnern
auf, die meine Großeltern hielten und wurde mit den Früchten und Gemüsen
aus dem Garten meiner Großmutter genährt, mit ihrer Liebe und ihren
wunderbaren Geschichten. Damals wollte ich keinen weiteren Besuch von
meinem Vater, aber manchmal fehlte er mir auch: Was konnte ich schon erwidern,
wenn andere Kinder sagten, ihr Vater hätte gesagt ... Zuweilen fühlte
ich fast Neid. Und manchmal war er mir auch trotz Abwesenheit zuviel.
Vor allem an den Geburtstagen, an denen ich zum Dank für seine Geschenke
und wie zum Beweis meines prächtigen Gedeihens in der Obhut meiner Mutter
für diesen Daddy Invisible fotografiert wurde, vom extra bestellten Fotografen
abgelichtet, nachdem Mama mich bühnenreif und leicht geschminkt als perfekte
Tochter in Pose gesetzt hatte, mit dem bezauberndsten Lächeln auf dem Gesicht
und den Gaben aus seinem Päckchen um mich herum. Oft bekam ich von
ihm sehr »amerikanisch« aussehende Kleidungsstücke, die mir häufig
erst Jahre später passten. Sie machten mich meist nicht besonders glücklich,
weil ich das Fotografiertwerden nicht mochte, nicht seine plötzliche, unsichtbare
Präsenz bei diesen Anlässen, und dass meine Mutter dann so offensichtlich
nervös war: »say cheese, darling«. Und weil meine Traurigkeit
sich auf magische Weise den Präsenten mitteilte, die sich dann ganz seltsam
ungut anfühlten. Dann war es viel schlimmer, als keinen Geburtstag,
keine gifts und keinen sichtbaren Vater zusammen. Dann war es wie ein
Fluch. Einmal gelang es mir, eines der Geschenke wieder umzuwandeln und
wirklich zu lieben: Ein dunkelblaues Strickkleid mit ganz dünnen roten und
weißen Querstreifen, die immer so circa drei Zentimeter auseinander waren.
Ich erinnere mich gut daran, dass ich es mit sechs bekam, mit über zehn für
mich entdeckte und mein Gefühl für Schick und Eleganz mit diesem Kleid
begann. Ich trug es mit hübschen roten Sandalen, die kleine Absätze
hatten, laut klapperten, und mit denen es unmöglich war, leise die Straße
entlang zu gehen. 1970 ging mein Vater nach Vietnam. My
Lai war schon gewesen und Soldaten waren Mörder. An der anderen
Wand vom Heuschober stand jetzt »AMI GO HOME«, ich nahm es persönlich
und vielleicht stimmte, was ein älteres Mädchen aus der Nachbarschaft
behauptete: Dass mein unsichtbarer Vater im Krieg Bomben auf Deutschland und die
Menschen hier geworfen hatte. Ich vergaß seine militärische Erkennungsnummer
und ignorierte fortan seine Beförderungen. Meine Mutter heiratete
im Sommer in zweiter Ehe einen Mann, der fast doppelt so alt war wie sie selbst;
die Verbindung und mein Zusammenleben mit den beiden dauerte um die vier Monate.
In dieser Zeit lernte ich viele neue interessante Worte, und der Ersatzvater steckte
mir beim Küssen die Zunge in den Mund. Das hat der Großvater auch einmal
gemacht. Mir war dann die Lust auf jegliche Väter ziemlich vergangen.
Mit elf bekam ich meine erste Blutung und ich freute mich am Wachsen meiner
kleinen Brüste, der Haare an meinem Leib, und besah mich gerne im Spiegel.
Erwachsen. Kraft fühlte ich in mir, alle Möglichkeiten des Universums!
Ein paar der unzähligen Fragen, die es in mir gab, beantwortete die Großmutter
jetzt in den langen Nachmittagsstunden, wenn die Schulaufgaben gemacht waren und
wir allein am Tisch saßen. Sie gab mir ihr Wissen; doch je mehr Antworten
ich bekam, umso mehr Fragen entstanden in mir. Da entdeckte ich die Welt des geschriebenen
Wortes. Bücher! Ich las über Alkoholismus, die deutsche Geschichte,
die amerikanische, mein Wissen ordnete und vertiefte sich; ich verstand ein wenig
besser die Gegenwart. Als ich knapp dreizehn war, saß ich viel in
irgendwelchen Wirtshäusern herum, denn wo sonst konnte ein Kind ungestörter
rauchen, als im Nebenraum einer Kneipe hinter einem kleinen Bier, das es damals
für 60 Pfennige gab? Ich habe viel Volkes Stimme gehört in diesen
Tagen, in denen es noch Baader-Meinhof-Gruppe hieß und ich erfuhr, was so
ein dumpfbauchiger Hansel dann alles gern mit einer Ulrike Meinhof gemacht hätte.
Exemplarisch. Wenn es um Frauen ging, hatte Gewalt immer auch mit Sex zu tun.
Das kannte ich schon. In meinen eigenen sexuellen Phantasien hatten Männer
die inaktiven Nebenrollen, allenfalls. Ich träumte von schönen leidenschaftlichen
Frauen geliebt und begehrt zu werden. Es war verboten, aber machbar, und Frauen
brauchten sicher viel Liebe, Kraft und Stärke, wenn sie in dieser Welt zusammensein
wollten, so überlegte ich. Es war eine besondere Art von Freiheit, auf diese
Art zu leben. Und es würde meine Freiheit sein, ich würde sie mir einfach
nehmen; wenn die Zeit reif war und wie die Großmutter gesagt hatte: »Die
Zeit und die Freiheit haben eines gemeinsam: Du musst sie dir nehmen, damit du
sie hast«. Beides würde ich mir nehmen. Ich wusste
mich stark und mit Sicherheit war ich kein ruhiges, braves Kind. Ich war vorlaut,
belesen, altklug, freiheitsliebend, unbeugsam, störrisch, und mit der Zeit
kamen meine Mutter und ich immer weniger miteinander aus. Ich war gut informiert
und erkannte mit fünfzehn meine Funktion in der Familie: Ich war ein sozialer
Schutzschild, die perfekte Tarnung und Aufwartung für Mama, das Fachwort
dafür hieß Co-Alkoholiker. Wir machten uns das Leben eine Weile
gegenseitig schwer. Ich verließ meine Mutter nach einem Streit, in dessen
Verlauf sie mich und ich sie zurück schlug, als plötzlich eine Grenze
überschritten war bei ihr und mir. Ich zog nach München, später
dann nach Trier und Kassel, vermied fortan jede Begegnung und lebte mein eigenes
Leben. Als ich fünfundzwanzig war, erreichte mich ein Brief meines
Vaters. Er war an meine Mutter gerichtet und ein Liebesbrief. Mein Vater
bedauerte, dass er sie leider verpasst habe, in dem Motel in Georgia, sie aber
noch immer liebe, und lieben wolle und sich freuen würde über einen
neuerlichen Kontakt mit ihr... Mein Großvater hatte das Schreiben
geöffnet und an mich geschickt, da er den Aufenthaltsort meiner Mutter nicht
kannte und mir Nachricht und Adresse meines Vaters zukommen lassen wollte. Ich
fand es ein wenig indiskret, den Brief zu lesen, aber auch spannend. Es
kam überraschend. Ich hatte nicht mehr oft an Daddy Invisible gedacht. Er
war mit der Zeit immer unwichtiger und bedeutungsloser geworden und seit meinem
Erwachsenwerden aus meinem Leben so gut wie verschwunden. Ich hielt nicht
viel von Männern und schon gar nichts von Soldaten. Er fehlte mir nicht.
Aber es würde bestimmt auch gut sein zu wissen, wer er ist, überlegte
ich, beruhigt, dass da ein ganzes Meer zwischen uns war. Ein paar Tage
später schrieb ich an meinen Vater, berichtete diesem unbekannten Menschen
von mir und er antwortete, erzählte von sich und meiner Stiefschwester Deborah,
die seinem Brief ein Kärtchen beilegte, mir mit freundlichen Worten Hallo
sagte und deren winzig kleine, akkurate Schrift mich verwunderte und auch bestürzte,
weil es eine Miniaturschrift war, eigentlich nur mit Lupe zu lesen, und selbst
ohne graphologische Kenntnisse würde ich gesagt haben, dass sie wohl kaum
in Gefahr war, von übermäßigem Selbstbewusstsein erschlagen zu
werden. Ich war neugierig, mehr zu erfahren. Es entwickelte sich ein
freundlicher Briefkontakt zwischen uns dreien, mein Englisch verbesserte sich
innerhalb kürzester Zeit drastisch, und ich lernte einen Militär kennen,
stockkonservativ. Mein Vater war einer von Reagans Falken. Es gab Briefe
zu Tschernobyl und zur Bombardierung von Tripolis und ich merkte, dass es mir
zunehmend um das Englische ging, denn im Politischen konnte es da keine Annäherung
geben und auch nicht sehr im Menschlichen. Das bedingt einander. Er ignorierte,
wenn ich von Frauen und meiner Liebe zu ihnen schrieb, wie er auch meine politischen
Ansichten und Meinungen nicht kommentierte und ich schloss daraus, dass es ihm
nicht um mich gehen konnte, nicht um das, was mich ausmacht als Individualität,
nicht um das, was ich fühle als Frau und Mensch, und dass es gut ist, auf
Abstand zu achten und unser beider Leben auseinander zu halten. Er lud
mich wiederholt ein, rüber in die Staaten zu kommen, denn letztlich wäre
das kein Leben in Germany, diese Enge. Ich könnte bei ihm und Debbie wohnen,
das wäre es doch: »You will love it!«. Ich war Dreißig,
als wir uns gegenüberstanden. Er kam wochentags und recht pünktlich
mit Debbie in einem Mietwagen aus Frankfurt angefahren. Sie tat mir sofort leid.
Mir war klar, dass ich Glück gehabt hatte mit meiner Mutter, den Großeltern
und allem, was mich hier umgab. In diesem Augenblick spürte ich Dankbarkeit
für mein bisheriges Leben. Ich meine: wirkliche Dankbarkeit. Deborah
erschien mir wie ein kleiner Adjutant, viel jünger als die 22 Jahre, die
sie war, auch von der Kleidung her, und bei jeder Frage und Entscheidung sah sie
zu ihm hin und erst wenn er sein okay gab, äußerte sie sich mit sehr
wenigen leisen Worten. Sie schien mir unfrei, abgerichtet, dressiert, klein gehalten.
Und kein Zweifel: Mein Vater war der ranghöchste anwesende Offizier, der
gleich zu Anfang feststellte, dass sie sich leicht verspätet hätten,
wegen eines Staus bei Hersfeld, und dass der Zeitplan jetzt eingehalten werden
müsste. Ich ergab mich seiner Order, da ich Frieden wollte und er nur 24
Stunden zu sehen war. Wir durchstreiften gemeinsam die Kasseler Innenstadt,
fuhren in den nahen Ort Rothwesten, und mein Vater führte Debbie und mich
durch die Straßen und in seine Vergangenheit, erinnerte sich und erzählte,
und mir gefiel seine lebhafte Art und das Blitzen seiner Augen, wenn ein Lachen
über sein Gesicht huschte. Ich bemerkte seine schönen Hände und
die geschmeidige, umsichtige Art, sich zu bewegen. Er warb um mich. Zu oft sagte
er, ich solle mit in die Staaten kommen, ich würde es mögen, ich hätte
da doch ganz andere Möglichkeiten. Mit der Zeit fand ich es müßig,
ihm wieder und wieder zu sagen, dass ich mich hier wohlfühle und keinen Grund
habe, das Land zu verlassen. Ich behielt für mich, wie sehr er mich in solchen
Augenblicken an den Großvater erinnerte, und diesem oft so ähnlich
schien, dass mich das Gefühl frösteln machte, auch er hätte mich
gerne in seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich, damit seine Möglichkeiten
verbessernd und nicht die meinen. Ich vermisste Angelika, die noch für
zwei Tage auf Klassenfahrt und in Dänemark unterwegs war und sich ärgerte,
ihn nicht persönlich kennen zu lernen, denn sie hätte den Herrn Offizier
schon gerne um meine Hand bitten wollen, wie sie sagte. Angelika fehlte mir in
diesen Stunden körperlich. Was half es, Fotos zu zeigen und von ihr zu erzählen?
Was meinen Vater und mich verband, waren die lediglich in heißes Wasser
eingerührten Haferflocken am Morgen. Wir saßen in der Küche und
ich entdeckte mein Gesicht in seinen Zügen und lauschte tief in mich hinein,
die Sprache meines Blutes zu hören, aber da war nur ein stilles Wundern,
wie fremd er mir trotz allem blieb. Er sagte, dass er damals um mich gekämpft
hätte, der deutsche Richter ihm jedoch das Sorgerecht verweigert habe und
ich erwiderte, dass ich von klein auf darum wusste, er sich nicht rechtfertigen
muss und mein Leben okay war. Okay ist. Mein Vater fragte, was für
einen Stellenwert ich der Familie in meinem Leben gebe und ich gab zur Antwort,
mehr Liebe, Zuneigung und Geborgenheit außerhalb der Familie gefunden zu
haben, als bei den Blutsverwandten, und dass Wasser womöglich zuweilen dicker
ist, als Blut. Ich merkte sofort, dass ich ihm genauso gut die Türe
hätte weisen können. Er hatte nach Zuneigung gefragt, nicht nach Fakten.
Es war die Frage gewesen, ob ich ihn annehme, und ich hatte Nein gesagt. Das schmerzliche
Lächeln auf seinem Gesicht war mir unendlich vertraut, diese kleine Wehmütigkeit
um den Mund und die Augen herum und für einen Augenblick legte ich ihm meine
Hand auf den Arm und wir sahen uns an.
Es war ihm sichtlich unangenehm,
als ich wissen wollte, wie das konkret mit der indianischen Abstammung ist. Ich
spürte, wie sehr es ihn erleichterte, als ich sofort begriff, dass ein Zweiunddreißigstel
keinesfalls ein Drittel meint.
Was war denn nur die Schande daran? Ich
sagte nichts und hätte gerne noch ein paar mehr Zusammenhänge der Familiengeschichte
erfragt, und auch, was ihn noch mit meiner Mutter verband, doch ich fand wenig
Freude und Bereitschaft bei ihm und so ließ ich es.
Wieder sprach
er davon, dass ich mit in die USA kommen könnte. Es klang kraftlos und nicht
mehr ganz ernst gemeint und ich erneuerte noch einmal mein freundliches Nein.
Wir waren einander fremd, und ich fühlte mich befreit, als Debbie bald
darauf frühstücken kam und er zeitig losfahren wollte, um der Mittagshitze
zu entgehen. Zudem galt es ja auch, weiterhin den Zeitplan einzuhalten, den er
vor Antritt der Reise ausgearbeitet hatte und der mir zwei Wochen vor Ankunft
der beiden zugegangen war. Hier stand auf die Minute genau, wann wo angekommen
und abgefahren wurde. Es war der erste Zeitplan, der mich in meinem Leben wirklich
erfreute.
Mein Vater und ich folgten Debbie, und ich sah auf das volle,
dunkle Haar und die geschmeidigen Bewegungen des Siebenundfünfzigjährigen,
der vor mir die Stufen hinabging.
Natürlich hatte er Deutschland nicht
bombardiert.
Als Kind glaubte ich eine Weile, es gäbe gar keine alten
Amerikaner, weil ausschließlich junge Soldaten und Offiziere und ihre Familien
die nahe Air Base bevölkerten und auch der Präsident sehr jung war.
Ich weiß noch um die Bestürzung in den Gesichtern der Erwachsenen,
als Kennedy erschossen wurde und meinen eigenen Schrecken, als in jenen Tagen
zum ersten mal die Angst in mein Leben trat, ich könnte ausgeflogen werden,
von amerikanischen Soldaten, im Ernstfall eines Atomkrieges in Europa. Einfach
so. Dann wurden nämlich die Amerikaner gerettet und ausgeflogen. Heim ins
Vaterland. Ganz schnell: No toys, no animal. No joke. Es ist die amerikanische
Lebensversicherung. Staatlich garantiert. Aber nur für Mitglieder. Leise
strich ich meiner Stiefschwester über die blonden Haare und hielt sie kurz
im Arm. Sie sah wie immer erst zu ihm hin, bevor sie sich verabschiedete, mir
alles Gute wünschte und ins Auto stieg. Als ich meinen Vater umarmte
und wir uns ein letztes mal in die Augen sahen, war ich froh, ihn kennen gelernt
zu haben, und auch, bald aufs Neue das große Meer zwischen uns zu wissen;
denn ihn öfter zu treffen und zu umarmen, wäre mir wohl schwer gefallen.
Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt und mir war fast so ein
bisschen schlecht. Es half schon viel, als der Wagen mit den beiden um die Ecke
bog und meinem Blick entschwand. Jetzt war es wieder richtig für mich.
Daddy Invisible. Copyright Diana P. Bailey |